Stille einüben

Wenn ich anfange, still zu werden, beginne ich zu spüren, was mein Herz bewegt. In meinem intensiven Alltag ist dafür nicht immer Raum – oder genauer: Der Raum ist da, aber ich nutze ihn nicht. Wenn ich still werde, dann spüre ich. Ich spüre, was mich beglückt. Lächle, wenn ich an schöne Momente zurück denke, und durchlebe sie in Gedanken noch einmal. Manchmal spüre ich auch Traurigkeit, wenn ich in Zeiten der Stille erkenne, wo ich daneben gelebt und Dinge gedacht oder getan habe, die nicht zum Leben beitrugen. Es tut mir gut, das noch einmal zu betrachten und dann auch im Gebet Gott hinzulegen: „Schau mal, das war nicht so gut.“ In der Stille lerne ich mich – Schicht um Schicht – besser kennen.

Im Alltag reagiere ich häufig spontan. Meist ist das gut, aber gelegentlich entspringen meine spontanen Reaktionen alten, negativen Mustern von Angst oder Hilflosigkeit. In der Stille wird mir das bewusst. Manchmal ist das auch nicht angenehm. Es tut weh, den eigenen Schmerz wahrzunehmen. Gelegentlich will ich dem ausweichen und weiche so auch den Zeiten der Stille aus oder bin so voller Ideen, dass ich kaum etwas spüren kann. Wenn ich es wage, hinzusehen, dann kann ich Verhaltensmuster, die mich belasten, auch vor meinen Gott hinlegen und ihn bitten, mir bei den anstehenden Veränderungsprozessen zu helfen. Ich erlebe, wie sich manches auflöst – dass ich weniger reagiere, sondern klarer handeln kann.

Den Blick auf Gott richten

Pastor Jim Henderson hat einmal gesagt: „Im Laufe meines Lebens habe ich zwei Dinge erkannt. Es gibt einen Gott und ich bin es nicht.“ Im Alltag leben wir oft so, als ob wir selbst Gott wären. Wir denken, alles hinge an uns. Wir machen uns Sorgen, als ob wir dadurch die Welt retten könnten und wir halten uns häufig für unersetzlich.

In der Stille wird unsere Perspektive wieder gerade gerückt. Wir erkennen: Es gibt einen Gott. Er ist da. Er wacht schützend über uns. Er ist real und er ist Gegenüber. Er ist mächtig, liebevoll und stark. Er kommuniziert und will nahe sein.

Der Blick auf Gott und sein Wesen bringt uns immer wieder zum Staunen. Zeiten mit Gott bringen uns auch wieder in die richtige Position: Ich bin nicht Gott. Das scheint manchmal schade. Wir haben unsere eigenen Vorstellungen, wie das Leben und die Welt laufen sollte und manchmal beten wir auch so, als ob wir Gottes Chefberater wären: „Herr, du solltest dies oder jenes tun.“ Wir denken in unserer Arroganz gelegentlich, dass wir die Dinge besser managen könnten, als er. In der Stille wird uns klar, dass wir nicht Gott sind. Das ist manchmal ernüchternd aber meistens ungemein entlastend: Wir sind nicht Gott und müssen es nicht sein. Wir müssen nicht die Last der Welt auf unseren Schultern tragen. Wir können und müssen nicht den Überblick über alles behalten. Wir müssen nicht alles wissen, alles regeln. Es gibt einen Gott und ich bin es nicht.

Wohltuende Rituale finden

Menschen aller Kulturen und Zeiten haben Gewohnheiten und Rituale für die Begegnung mit Gott entwickelt. Die einen knien, um ihren Respekt vor Gott auszudrücken. Andere benutzen Gebetsperlen als Hilfe für ein Ritual des Gebetes, wieder anderen verwenden Kerzen, heben die Hände oder legen sich ausgestreckt vor Gott auf den Boden. Körper und Seele agieren im Wechselspiel miteinander – es wirkt auf die Seele, was der Körper tut und umgekehrt. Wer etwa total relaxt abhängt, wird seine stillen Zeiten anders erleben als jemand, der in achtsamer Konzentration vor Gott steht oder jemand, der still kniet. Deshalb kann es sinnvoll sein, die eigene Körperhaltung in Zeiten der Stille zu beobachten. Was drückt mein Körper aus: Entspannung oder Anspannung, Freude, Erwartung, Langeweile, Angst oder Ehrfurcht? Was ändert sich in meinen Emotionen, wenn ich mich anders setze oder stelle, wenn ich den Kopf hebe oder senke?

Ich persönlich liebe es, beim Gebet meine Handflächen nach oben zu richten. Zum einen drückt das für mich aus: Ich trage das, was mich bewegt auf offenen Händen, ich klammere es nicht fest. Ich halte es meinem Gott hin. Ich lasse los. Zum anderen drückt es aus: Ich bin offen dafür, mich von Gott beschenken zu lassen. Ich bin gespannt und erwartungsvoll und rechne damit, dass er – vielleicht ganz überraschend – meine Hände und mein Herz füllt.

Probiere verschiedene Haltungen oder Rituale aus, die dir helfen, zur Ruhe und zur Konzentration zu kommen. Zum Beispiel eine Kerze anzünden, eine bestimmte Uhrzeit freizuhalten oder eine Körperhaltung einzunehmen, die dir zeigen: Jetzt ist die Zeit für Stille. Zeit für die Begegnung mit Gott.

 

Dieser Text ist ein leicht bearbeiteter Auszug aus dem Quadro von Kerstin Hack und Birgit Schilling: Stille finden. Aus der Ruhe leben lernen.

Weiterer Buchtipp:

Thomas Härry: Deus Adest. Gott ist da: Das Tageszeitgebet neu entdecken.

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