Andrea Specht: Danke, TÜV!

Vor einigen Jahren bekam ich einen kleinen schwarzen VW Polo geschenkt, der schon so einige Jahre auf dem Buckel hatte. Es war mein erstes Auto, ich war glücklich und lebte gern mit seinen Alterserscheinungen. Zwar war im Winter die Batterie sofort leer, die Kupplung machte eigenartige Geräusche und immer wieder beim Gangwechsel hopste und zuckte der Polo unbeholfen ein paar Meter über die Straße. Doch mir war das sympathisch.
Nur leider konnte das nicht lange gutgehen: nach einem Jahr kündigte sich der TÜV an. Meine Werkstatt des Vertrauens sollte checken, was es brauchte, damit der kleine Polo Chancen auf einen neuen Kleber hätte. Mitleidig, fast ein wenig vorwurfsvoll, blickte mich der Mechatroniker an und erklärte mir sachlich, dass mein, naja – Wagen, so was von „runtergerockt“ sei, dass er es nie und nimmer durch den TÜV schaffen würde: die Bremsen so gut wie durch, Reifen, Achse, Elektronik – und noch so einiges, was ich ehrlich gesagt nicht ganz verstand. Was jedoch in aller Deutlichkeit bei mir ankam war: Mein geliebter kleiner Polo war nicht mehr zu retten.

Mit ernster Miene hielt mir der Mann einen Wisch unter die Nase, auf dem ich mit meiner Unterschrift bestätigen musste, dass ich verstanden hatte, dass mein Polo aus dem Verkehr gezogen werden müsse. Er gelte als tickende Zeitbombe und stelle eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer dar. Hoch und heilig musste ich versprechen, dass ich nur noch nach Hause fahren und das Auto dort stehen lassen würde – bis ein Abschlepper ihn zum Verschrotten abholen würde.
Mein kleiner Polo??? Dass es so schlimm um ihn stand, hatte ich nicht gewusst. Der Mann, der sonst sicher ständig mit Neuwagen zu tun hatte, übertrieb doch und machte ein größeres Trara um die Angelegenheit als nötig. Aber was blieb mir anderes übrig? Ziemlich geknickt und traurig trat ich also unsere letzte gemeinsame Fahrt an. Auch ein wenig sauer auf den TÜV, dass die da so streng waren. Schließlich tat’s der Polo doch noch!

 

„Au Mann, hätten die hier mal ‘nen TÜV!“, fauche ich genervt. Auf der einzigen Überlandstraße Nepals, die aus Kathmandu herausführt, qualmt es, die Fahrzeuge geraten ins Stocken, kommen zum Stehen, Hupkonzerte heben an. Wir stecken fest. Sämtliche Fracht-Lkws aus Indien, unzählige Touristen- und Überlandbusse, die in die Dschungel- und Bergregionen des Landes unterwegs sind sowie private Autos und Mopeds schieben sich schnaufend und schwarzen Rauch hustend die schmale, holprige Bergstraße aus dem Talkessel hinaus. So mancher keuchende, bunt bemalte Laster packt den Anstieg nicht – und bleibt liegen. Etwa alle 500 Meter streckt so ein Koloss alle Viere von sich und bildet ein unüberwindbares Verkehrshindernis: Achsenbruch, überhitzter Motor, Altersschwäche. Denn die Straße ist gerade mal zweispurig. Und besonders hier, auf den ansteigenden Straßen hinauf zum Pass, geht es in einer nicht abreißenden Schlange von Fahrzeugen nur in der Kolonne voran. Wenn also der Motor nicht gerade in der Nähe einer Haltebucht oder breiten Kurve seinen Geist aufgibt, kommt der Verkehr dahinter komplett zum Erliegen. Denn auch der Gegenverkehr reißt nie ab – auch hier eine Kolonne von Fahrzeugen, die Stoßstange an Stoßstange kleben. Somit ist die Spur dann stundenlang verstopft, kein Abschlepper kommt durch, kein ADAC – es ist schlicht nicht klar, wie und ob das Problem gelöst werden kann. Die einzigen, die weiterkommen, sind die Mopedfahrer, die sich waghalsig durch die Blechmassen hindurchschlängeln. Alle anderen können mit viel Glück eine kleine Lücke im Gegenverkehr nutzen oder kommen gegen Abend weiter, wenn der Überlandverkehr etwas abnimmt.

“Dreiviertel der fahrbaren Untersätze hier hätte der TÜV längst aus dem Verkehr gezogen”, kalkuliere ich finster, während ich mir die Fahrzeuge anschaue, die sich an uns vorbeischieben. Und mir dämmert: Das wäre sicherlich gar nicht so schlecht. Eigentlich mag ich strikte Regeln und Verbote nicht besonders, vor allem dann, wenn sich mir ihr Sinn nicht erschließt. Aber was wäre, wenn es “gute Regeln” sind? Hier dämmert mir, dass ein TÜV ganz schön sinnvoll ist. Und steckt nicht vielleicht in jeder TÜV-Auflage, jedem Knöllchen für Falschparken, jedem Verbot in der U-Bahn die Absicht, für ein gutes Miteinander zu sorgen, Klarheiten zu schaffen und Sicherheit zu gewährleisten? Auch hinter jedem Wisch, mit dem man gezwungen wird zu bestätigen, sein Auto nicht weiterzufahren, weil es bestimmte Kriterien nicht erfüllt?

Wenn ich mir Nepals Straßen so ansehe: Ja. Und so schwer mir der Abschied von meinem kleinen Polo auch fiel – ich bin froh über den TÜV. Dass es ihn gibt und dass er so nostalgischen Menschen wie mir nicht gestattet, ihr gefährliches und gefährdendes Schrottmobil weiterzufahren.

Wie ich da in der brütenden Hitze im stillstehenden Bus sitze, werde ich dankbar. Dankbar für Autowerkstätten und gewissenhafte, unbestechliche Mechatroniker. Dankbar für die Polizei und das Ordnungsamt in Deutschland, die dafür sorgen, dass Menschen sich an Verkehrsregeln halten und damit die Straßen sicher machen. Dankbar für das Finanzamt, das Steuern einfordert, mit denen u. a. Schlaglöcher gestopft, Leitplanken, Standstreifen, Ampeln und Beamte finanziert werden. Dankbar für Katalysatoren, Helmpflicht und Anschnallgurte.

Keine Frage: Von einem so herrlichen, faszinierenden Land wie Nepal und seinen wundervollen Menschen kann man viel lernen. Ich komme jedes Mal reich beschenkt und tief berührt zurück. Dabei lerne ich auch Dankbarkeit – für die einfachen Dinge des Lebens, die so viel Freude bereiten können, und dass es oft gar nicht viel braucht, um glücklich zu sein. Und nicht selten ist es einfach eine Frage der Perspektive – ich lerne Dankbarkeit für die Selbstverständlichkeiten in meinem deutschen Alltag: für Dinge, die mir oft gar nicht bewusst sind oder die mich sogar oft nerven.
Wie der TÜV.

 

Dankbarkeits-Übung:

Für welche – auch nervende – Selbstverständlichkeit in deinem Alltag könntest du dankbar sein? Wenn du sie zum Beispiel aus einer anderen Perspektive siehst?

Überlege, was wäre, wenn es sie nicht gäbe.

 

Büchertipps:

Zum Jahr der Dankbarkeit haben wir viele Titel publiziert, die den Blick auf das richten helfen, was dankbar und zufrieden macht. Dankbarkeit kann man einüben und entwickeln.

Danke, Leben! 36Paket_Dankbarkeit_ohne Kalender5 Impulse, die Fülle zu entdecken. (Buch)

Dankbar leben. Zufriedenheit entwickeln und entfalten. (Quadro)

365 Tage Dank. Gutes sehen und genießen (Immerwährender Kalender)

Dankbarkeit. Impulse, das Gute zu sehen (Impulsheft)

Hier geht es zum Paket und den Einzeltiteln.

 

 

 

Von Andrea Specht gibt es passend zum Text ein Impulsheft zum Thema Reisen.

i-56_reisen_2Reisen. Impulse, Neuland zu entdecken.

 

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