Kerstin Hack: Flüchtlinge in Franken. Ein Reisebericht
Ich lebe in Berlin. Dieser pulsierenden, vielseitig, sich ständig verändernden Stadt. Und stamme aus Franken, wo die Hügel sanft und die Menschen unaufgeregt und bodenständig sind und wo Veränderungen sich eher gemächlich vollziehen. Da ich mich intensiv mit Willkommenskultur beschäftige, war ich auf einer kleinen Reise durchs Frankenland gespannt darauf, ob und wie dort das Willkommen gegenüber Flüchtlingen gelebt wird.
Schwäbisch Hall, die erste Etappe meiner Reise, gehört vom Bundesland her zu Baden-Württemberg, die Menschen dort bezeichnen sich als Hohenloher Franken. Eine wunderbar beschauliche Stadt. Im alten Telekom-Gebäude und dem ehemaligen Gebäude des Hohenloher Tagblatts sollen Flüchtlinge untergebracht werden. Doch noch ist es nicht so weit. Die Einwohner haben Zeit, sich auf die Neuankömmlinge vorzubereiten. Und tun es fränkisch-bodenständig praktisch: Sie richten ein Lager für Kleidung ein, organisieren Fahrrad-Reparatur-Werkstätten, damit die Flüchtlinge von Anfang an mobil sind.
In meinem Vortrag – in dem es eigentlich um ein anderes Thema geht – erwähne ich kurz eine Frau, die in der Flüchtlingshilfe engagiert ist. Sie wird hinterher von vielen Zuhörern angesprochen, die auch etwas beitragen wollen. Man redet nicht groß, man packt einfach an. Das ist Franken.
Ich erwähne auch, dass ich als gläubige Christin davon überzeugt bin, dass Gebet für Segen und Schutz für die Flüchtlinge und ihre Unterkünfte wichtig sind und ermutige, doch bei einem Spaziergang ab und an mal an den künftigen Wohnorten der Neuankommenden vorbei zu gehen und Gott um seinen Schutz und Segen zu bitten. Eine Frau erzählt mir hinterher, dass sie das sehr berührt hat. Ja, keine 30 km entfernt haben Unterkünfte gebrannt. Und Gebet liegt ihr. Sie wird das auf ihr Herz nehmen und beten.
Später, zu Gast bei meinen Eltern, wird erst mal intensiv diskutiert. Über geplante Transitzonen, Seehofer, Merkel und was sonst noch alles gerade auf der politischen Tagesordnung steht. Und auch über die Sorgen und Ängste, die sie angesichts der neuen Situation spüren. Mein Vater erzählt mir von dem Artikel eines Berliner Journalisten, der von den vielen Menschen mit Migrationshintergrund geschrieben hat, denen er täglich begegnet – als Taxifahrer, Verkäufer, Ärzte, Polizisten usw. „Für euch ist das Alltag – für uns hier ist die Begegnung mit Menschen aus anderen Ländern eher neu!“ Das liegt vielleicht auch daran, dass sie mal zum Italiener zum Essen gehen – nicht aber zur Dönerbude, die es in der Kleinstadt, in der sie leben, natürlich auch gibt.
Politisch sind wir uns nicht in allem einig, doch was klar ist: Es muss angepackt werden. Meine Eltern erzählen mir von vielen bayrischen Regierungsinitiativen, um Flüchtlinge in Ausbildung und Arbeit zu bringen. Das sei allemal besser als in Berlin, wo bei der Erstregistrierung von Flüchtlingen ja totales Chaos herrscht. Sie sagen: In Bayern packt man die Dinge halt an. Ganz pragmatisch lese ich dann auch im Lokalteil der Zeitung, dass die Kleinstadt die 29-jährige Lubna Al Hossari als Kümmerin angestellt hat. So heißt das im Amtsdeutsch. Die junge Frau, die selbst aus Syrien geflüchtet ist, betreut die derzeit noch recht überschaubare Menge von 18 Asylbewerbern, die derzeit in der Kleinstadt leben. Sie hilft bei Formalitäten und Behördengängen, sortiert Spenden und packt da an, wo es nötig ist.
Das tun meine Eltern auch. Als mein Vater erfuhr, dass in einem nahe gelegenen Dorf eine Flüchtlingsfamilie angekommen war, fuhr er hin und nahm sie mit zum Einkaufen in die nächste Kleinstadt. Das heißt, er wollte für sie die Dinge einkaufen, aber als sie in die inhabergeführten Läden kamen, in denen jeder meinen Vater kannte, gelang es ihm nicht, für etwas zu bezahlen. Jeder wollte etwas schenken und zum Start beitragen: ein Wintermantel, ein Schulranzen, ein warmer Pulli. Bald war die Ausstattung komplett.
Ein Damenfahrrad fand sich noch in der Garage meiner Eltern und der Ehemann und mein Vater brachten der geflüchteten Frau erst mal das Fahrradfahren bei. Schließlich soll sie auch mobil sein. Ich kenne das Dorf. Ein paar Hundert Einwohner. Alles Franken, seit man in den dreißiger Jahren die dort lebenden jüdischen Familien vertrieb.
Jetzt wohnen meines Wissens nach erstmals seit langem wieder Nicht-Franken in diesem Ort. Und vermutlich bald auch in anderen fränkischen Dörfern. Mich berührt das. Auf dem Schreibtisch meines Vaters finde ich das Buch eines Juden, der von seiner Kindheit in Franken erzählt. Ich blättere wahllos darin herum. Er schreibt, in seinem Dorf Scheinfeld hatten 90% der Einwohner braun gewählt. Direkt nach der Wahl stellte ein Bauer im Dorf einen Galgen auf. Mit einem Schild „Hier ist Platz für alle Juden!“ Die Familie verlässt bald danach den Ort, an dem sie sich nicht mehr sicher fühlen.
Mir wird beim Lesen fast schlecht. Ein paar Tage zuvor war das Bild eines Galgens durch die Presse gegangen, der von einem Teilnehmer bei einer Demonstration der Pegida mitgeführt worden war. Mit einem Schild, das erklärte, dass er für Frau Merkel und Herrn Gabriel gedacht sei. Viele empörten sich. Manche versuchten, zu beschwichtigen – das sei nur Ausdruck politischen Protestes gewesen. Ich kann und will das nicht so sehen. Die Geschichte zeigt deutlich: Erst wird mit Worten oder Bildern Gewalt angedroht, dann folgt häufig die grausame Tat.
Ich frage meine Eltern nach ihren Erfahrungen mit den Flüchtlingen nach dem zweiten Weltkrieg. In beiden Elternhäusern waren Flüchtlingsfamilien einquartiert, wie es damals üblich war. Beide berichten darüber, dass damals keiner über die Flüchtlinge glücklich war, es viel Unwillen gab. Man neidete ihnen die Ausgleichszahlungen, die sie für die verlorenen Besitztümer im Osten erhielten. Hier ist es vor allem meine Mutter, die Details erzählt. Sie sagt, eine ihrer Schwestern schimpfte darüber, dass sie für die einquartierten Flüchtlinge mitkochen musste, weil diese selbst keinen Herd hatten. Ihre andere Schwester verliebte sich ausgerechnet in einen Schlesier – als Deutsche wurden die Geflüchteten damals nicht empfunden. Das wurde in der Familie zwar geduldet, aber keineswegs befürwortet. Also: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.
Zum Abschied gehen wir alle Karpfen essen. In einer rustikalen fränkischen Gastwirtschaft, wo nur fränkische Frauen bedienen. In einem Nachbarort hat ein Gastwirt eine Asiatin geheiratet. Das war schon eine Sensation. Auf den Dörfern ist die Bevölkerung tatsächlich noch so homogen, dass selbst ein eingewanderter Preuße (fränkisch für alle Norddeutschen) als Fremdkörper betrachtet wird.
Auf dem Rückweg nach Berlin sitze ich in einem Abteil mit etwa 30 Chinesen. Ab und zu verstehe ich ein Wort. Ich hatte mal versucht, die Sprache zu lernen. Unsere Welt wird internationaler. Wir werden uns wohl daran gewöhnen müssen.
Mir hat mal jemand gesagt. „Franken sind wie Karpfen. Meistens stumm am Grund. Nur ab und zu tauchen sie auf.“ Das mag stimmen. Ich glaube und hoffe, dass in der ganzen Flüchtlingsdebatte am Ende nicht die gewinnen werden, die am lautesten reden, sondern die, die ohne große Worte einfach tun, was getan werden kann und muss, um Menschen beim Ankommen zu helfen. Die vielen Menschen, die nicht groß reden, sondern einfach anpacken. In Franken und anderswo.
Oktober 2015