Kann man Freundschaft lernen?

Schulungen? Braucht man so etwas wirklich, um Freundschaften eingehen zu können? Nein, natürlich nicht. Freundschaft hat etwas mit Liebe zu tun und Liebe hat man im Herzen, dafür braucht man doch keine Schulungen.
Meine Freundin Berewan schreibt mir eine Nachricht: „Ich habe gekocht! Kommst du zum Essen?“ Ich freue mich, von meiner Freundin zu hören. Aber soll ich jetzt nach einem vollen Arbeitstag wirklich nochmal los, mich in den Bus setzen und zu Berewan und ihrer Familie fahren? Ich weiß, dass ich da nicht einfach nur kurz vorbeikommen kann und nach einer Stunde wieder weg bin. Doch irgendwie hält mich nichts in meiner leeren Wohnung und ich freue mich auf das leckere arabische Essen, das auf mich wartet.

Als ich dort ankomme, werde ich freudig begrüßt. Ihre zwei Brüder und ihr Onkel sitzen auf dem Sofa, trinken Tee und rauchen Zigaretten. Berewan steht am Herd: „Setz dich hin! Was willst du trinken? Tee, Kaffee?!“ „Danke, ich nehme einen Tee, aber bitte keinen schwarzen. Sonst kann ich heute Nacht nicht schlafen.“ Ich verstehe bis heute nicht, wie alle Leute aus der arabischen Welt es immer schaffen, so spät noch Schwarztee oder Kaffee zu trinken und trotzdem schlafen zu können. Naja, das ist wohl nicht meine Sorge. Ihnen scheint es gut zu gehen. Alle reden und sind glücklich. Ich bin bald mitten drin in den Gesprächen und höre zu, was jeder erzählt. Auch haben alle irgendwelche Fragen: „Irgendjemand hat „Penner“ gesagt. Was heißt das?“ Wir lachen zusammen über die Fettnäpfchen und Missverständnisse mit den Deutschen. Berewans Bruder musste an diesem Tag zum Arbeitsamt. Als er ein Formular ausfüllen musste, hatte er keinen Stift. Er ging zu einem Mann und fragte ihn, ob er seinen Kuli kurz leihen könnte. Der Mann schaute ihn nur böse an und sagte: „Nein!“. Berewans Bruder war verwirrt. „Warum sind Leute so unfreundlich hier in Deutschland? Ich will seinen Stift doch nicht klauen?!“

Irgendwann stellt Berewan das Essen auf den Tisch. Es gibt keine Teller, sondern nur Brot, welches man in die verschiedenen Töpfe taucht und dann isst. Ich fühle mich wohl. Seit einigen Wochen fangen wir bei unseren Treffen früher oder später an, auch über Jesus zu reden. Auch heute soll ich eine Geschichte von Jesus erzählen. Sie stellen mir Fragen und erzählen mir, was sie glauben. Als ich langsam müde werde, sage ich, dass ich jetzt gehen müsse. „Nein, bleib noch! Es ist noch so früh!“. Immer das gleiche, denk ich mir. „Ich muss gehen, ich muss morgen wieder arbeiten!“. „Okay, aber noch eine Sache. Guck mal, ich habe diesen Brief bekommen. Ich verstehe diesen Brief nicht, kannst du mir kurz helfen das hier auszufüllen?!“

Diese Familie ist innerhalb eines Jahres wie meine eigene Familie geworden. Und eine Familie kostet Zeit, Kraft und Energie. Aber sie schenkt auch Sicherheit, Liebe und Verständnis. Am Anfang unserer Freundschaft durfte ich noch nicht in der Küche mithelfen, musste mein Essen aus einem Teller essen und über mich wurden keine Späße gemacht. Mittlerweile werde ich Schwester genannt, über mich wird gelacht, ich darf mir selber Tee machen und mit allen aus den Töpfen essen. Also hier der Beweis: Es funktioniert, interkulturelle Freundschaften aufzubauen!
Und trotzdem: Warum höre ich so oft von vielen Flüchtlingen „Ich brauche einen deutschen Freund!“? Und dabei gebe ich ihnen Recht: Ein Flüchtling kann sich meiner Meinung nach nur dann integrieren, wenn er einen deutschen Freund oder eine deutsche Freundin hat. Denn mit einem deutschen Freund lernt er/ sie die deutsche Sprache, die Kultur und die Stadt kennen.

Ich will nicht aufhören dafür zu kämpfen, dass noch viele geflohene Menschen durch interkulturelle Freundschaften hier in Deutschland integriert werden. Und vielleicht kann Liebe ja doch gelernt sein. Deshalb schulen wir hier in unserer Stadt die Leute, um ihnen die Hemmschwelle zu nehmen, eine interkulturelle Freundschaft einzugehen. Die meisten Deutschen haben Fragen: Warum denken Menschen aus fremden Ländern immer in Beziehungsgeflechten? Wieso ist manchen Menschen Zeit nicht so wichtig? Wieso ist der Islam so sehr in die Kultur der Menschen verwoben?

Doch ich werde bei all diesen Fragen langsam verwirrt: Warum erscheint mir nicht nur die Kultur von Menschen, die unsere Sprache nicht sprechen, manchmal so komisch, sondern warum verstehe ich auch meinen Verlobten oft nicht, der im Gegensatz zu mir oft alles anders und innovativ gestalten möchte? An Weihnachten bin ich verärgert, dass wir nicht so feiern, wie meine Familie es schon immer getan hat. Warum sollten wir die ganzen schönen Traditionen einfach zur Seite legen? Wo fängt „interkulturell“ eigentlich an? Ist nicht jeder Mensch eine Kultur für sich, die man kennenlernen muss?

Durch die Schulungen, die wir anbieten, soll sich zunächst einmal jeder Mensch selbst und seine eigene Kultur kennenlernen. Dabei gibt es verschiedene Aspekte, die eine Kultur prägen: Sind mir Menschen wichtiger oder das Materielle? Wenn mir Menschen wichtiger sind, dann beantworte ich die Frage, wie es meiner Familie geht, mit „Gut, danke! Wir bekommen bald wieder ein Kind!“. Wenn das Materielle einen höheren Stellenwert in meinem Leben hat, dann lautet meine Antwort eher „Gut, danke! Wir bauen gerade ein Haus!“
Berewans Familie legt beispielsweise keinen großen Wert auf materielle Sachen. Immer, wenn sie die Wahl haben zwischen Arbeiten und Menschen treffen, dann wird alles stehen und liegen gelassen, um Zeit mit Freunden oder Bekannten zu verbringen.

Ein weiterer Aspekt von Kultur kann auch die Art sein, wie ich Beziehungen führe: Bewege ich mich in nur einem Beziehungskreis, beispielsweise nur meiner Gemeinde, oder sind meine Beziehungen situationsbedingt, sodass ich im Fitnessstudio, in der Gemeinde und auf der Arbeit meinen Freundeskreis habe?
Ich verstehe jetzt: Ich kann nicht einfach nur Berewans Freundin sein. Wenn ich mit ihr befreundet bin, dann werde ich plötzlich in ihr ganzes Beziehungsgeflecht mit hineingenommen: Ihre Brüder sind jetzt auch meine Brüder.

Ebenso definiert sich eine Kultur nach der Ausrichtung im Leben. Ist diese traditionell oder innovativ? Wenn ich mein Leben traditionell lebe, dann ist es mir wichtig, was in meiner Vergangenheit passiert ist. Auch übernehme ich dann einfach Sachen in mein Leben, die man einfach „schon immer so gemacht hat“. Bin ich aber eher innovativ ausgerichtet, dann sind mir meine Herkunft und die damit zusammenhängenden Traditionen nicht so wichtig, sondern das, was ich in der Zukunft erreiche, macht mich aus! Kein Wunder, dass Berewan immer noch das gleiche Essen kocht, welches ihre Mutter und auch schon ihre Großmutter gekocht haben. Das hat man doch schon immer so gemacht! Warum sollte sie in Deutschland denn anderes Essen als in Syrien kochen?

Wenn ich diese Aspekte, die eine Kultur ausmachen, kenne, dann kann ich Menschen besser einschätzen und mir fällt es vielleicht gar nicht mehr so schwer, mit ihrer Andersartigkeit umzugehen. Und das Verrückte ist: Nicht nur meine Freundin aus Syrien hat eine andere Kultur als ich, sondern auch mein Verlobter.

 

Gastartikel von Kathrin, die Willkommenskultur als Freundschaften lebt.

 

Bücher zum Thema:

Q-53_Willkommenskultur_PresseQuadro Willkommenskultur. Flüchtlinge kennenlernen und unterstützen.
Hg. Kerstin Hack und Gemeinsam für Berlin

5€, Down to Earth.

 

 

 

David W. Shenk: Christen begegnen Muslimen: Wege zur echter Freundschaft
Ein fantastisches Buch, das zeigt, wie man – über religiöse Gräben hinweg – echte Freundschaft leben, sich respektieren und schätzen kann, ohne die eigene Identität und den eigenen Glauben zu verleugnen.

Badu D. Kateregga, David W. Shenk: Ein Christ und ein Muslim im Gespräch

Zwei langjährige Freunde – ein Christ und ein Moslem – beschreiben die Unterschiede in ihrem Glauben. Sehr gute Einführung in die Glaubens- und Lebenswelt der jeweils anderen.

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